Entscheidung

Entscheidung Nr. 2015-458 QPC vom 20. März 2015

Eheleute L. [Impfpflicht]

Der Verfassungsrat ist am 15. Januar 2015 gemäß den von Artikel 61-1 der Verfassung vorgesehenen Voraussetzungen vom Kassationsgerichtshof (Strafsenat, Beschluss Nr. 7873 vom 13. Januar 2015) bezüglich einer von Herrn RA Emmanuel Ludot, Rechtsanwalt der Anwaltskammer von Reims, für Herrn Marc L. und Frau Samia L., geb. S., erhobenen vorrangigen Frage zur Verfassungsmäßigkeit angerufen worden, welche die Frage der Vereinbarkeit der Artikel L. 3111-1 bis L. 3111-3 und L. 3116-2 der Gesundheitsordnung sowie des Artikels 227-17 des Strafgesetzbuches mit den von der Verfassung verbürgten Rechten und Freiheiten zum Gegenstand hat.

DER VERFASSUNGSRAT,

Unter Bezugnahme auf die Verfassung;

Unter Bezugnahme auf die geänderte gesetzesvertretende Verordnung Nr. 58-1067 vom 7. November 1958, Verfassungsergänzungsgesetz über den Verfassungsrat;

Unter Bezugnahme auf die Gesundheitsordnung;

Unter Bezugnahme auf das Strafgesetzbuch;

Unter Bezugnahme auf die gesetzvertretende Verordnung Nr. 2000-548 vom 15. Juni 2000 über den gesetzesrechtlichen Teil der Gesundheitsordnung;

Unter Bezugnahme auf das Gesetz Nr. 2002-303 vom 4. März 2002 über die Rechte der Patienten und die Qualität des Gesundheitswesens;

Unter Bezugnahme auf das Gesetz Nr. 2004-806 vom 9. August 2004 über die Gesundheitspolitik;

Unter Bezugnahme auf die gesetzvertretende Verordnung Nr. 2005-759 vom 4. Juli 2005 zur Novellierung des Abstammungsrechts;

Unter Bezugnahme auf das Gesetz Nr. 2007-293 vom 5. März 2007, Reform des Kinderschutzrechts;

Unter Bezugnahme auf das Gesetz Nr. 2009-61 vom 16. Januar 2009 zur Bestätigung der gesetzesvertretenden Verordnung Nr. 2005-759 vom 4. Juli 2005 zur Novellierung des Abstammungsrechts und zur Änderung oder Aufhebung verschiedener abstammungsrechtlicher Vorschriften;

Unter Bezugnahme auf die Geschäftsordnung vom 4. Februar 2010 über das Verfahren vor dem Verfassungsrat bei vorrangigen Fragen zur Verfassungsmäßigkeit;

Unter Bezugnahme auf die für die Antragsteller von Herrn RA Ludot eingereichten Stellungnahmen, eingetragen am 19. Januar und 9. Februar 2015;

Unter Bezugnahme auf die Stellungnahme des Premierministers, eingetragen am 6. Februar 2015;

Unter Bezugnahme auf die von dem als Nebenintervenienten auftretenden Nationalen Verband der Bürgerlichen Vereinigungen für das Gesundheitswesen [Union Nationale des Associations Citoyennes de Santé] eingereichten Stellungnahmen, eingetragen am 22. Januar und 5. Februar 2015;

Unter Bezugnahme auf die zu den Verfahrensakten gegebenen Unterlagen;

Nachdem Herr RA Ludot für die Antragsteller und Herr Xavier Pottier, Beauftragter des Premierministers, im Rahmen der mündlichen Verhandlung vom 10. März 2015 gehört worden sind;

Nachdem der Berichterstatter gehört worden ist;

  1. In Erwägung dessen, dass der Artikel L. 3111-1 der Gesundheitsordnung in der Fassung des oben genannten Gesetzes vom 9. August 2004 bestimmt: „Die Impfpolitik wird von dem für das Gesundheitswesen zuständigen Minister beschlossen, der die Immunisierungsvoraussetzungen festlegt, die notwendigen Empfehlungen herausgibt und nach Stellungnahme des Hohen Rates für das öffentliche Gesundheitswesen den Impfkalender veröffentlicht.
    „Wenn dies aufgrund der Entwicklung der epidemiologischen Situation und des Standes der medizinischen und wissenschaftlichen Erkenntnisse angezeigt ist, können die von den Artikeln L. 3111-2 bis L. 3111-4 und L. 3112-1 vorgesehenen Impfpflichten durch Dekret für die gesamte Bevölkerung oder Teile der Bevölkerung ausgesetzt werden“;

  2. In Erwägung dessen, dass der Artikel L. 3111-2 desselben Gesetzbuches in der Fassung des oben genannten Gesetzes vom 5. März 2007 vorschreibt: „Die Schutzimpfungen mittels eines Toxoidimpfstoffes gegen Diphtherie und Tetanus sind vorgeschrieben, sofern keine anerkannte Kontraindikation vorliegt; diese beiden Impfungen erfolgen gleichzeitig. Sorgeberechtigte oder Vormunde von Minderjährigen sind persönlich für die Durchführung dieser Maßnahme verantwortlich, welche bei jeder Aufnahme in eine Schule, eine Kindertagesstätte, ein Ferienlager oder eine andere gemeinsame Einrichtung für Kinder belegt werden muss.
    „Ein Dekret legt die Modalitäten für die Durchführung der Schutzimpfungen gegen Diphtherie und gegen Tetanus fest“;

  3. In Erwägung dessen, dass der Artikel L. 3111-3 der Gesundheitsordnung in der Fassung des Gesetzes vom 9. August 2004 lautet: „Die Schutzimpfung gegen Poliomyelitis ist vorgeschrieben, sofern keine anerkannte Kontraindikation vorliegt; das Alter für die Durchführung der Impfung sowie deren Modalitäten werden durch ein Dekret nach Stellungnahme des Staatsrates festgelegt, welches nach vorheriger Stellungnahme der Nationalen Akademie für Medizin und des Hohen Rates für das öffentliche Gesundheitswesen erlassen wird. Sorgeberechtigte oder Vormunde von Minderjährigen sind persönlich für die Erfüllung dieser Impfpflicht verantwortlich“;

  4. In Erwägung dessen, dass der Artikel L. 3116-2 desselben Gesetzbuches in der Fassung der oben genannten gesetzesvertretenden Verordnung vom 15. Juni 2000 festlegt: „Solange der Betroffene ein bestimmtes, für jede Art der Schutzimpfung einzeln durch Dekret festgelegtes Alter noch nicht vollendet hat, kann bei Verstößen gegen die Vorschriften der Artikel L. 3111-1 bis L. 3111-3 öffentliche Klage zwecks strafrechtlicher Verfolgung erhoben werden“;

  5. In Erwägung dessen, dass der Artikel 227-17 des Strafgesetzbuches in der Fassung der oben genannten gesetzesvertretenden Verordnung vom 4. Juli 2005 bestimmt: „Wer als Vater oder Mutter eines minderjährigen Kindes ohne rechtmäßigen Grund seine gesetzlichen Verpflichtungen in einer Weise vernachlässigt, dass die Gesundheit, die Sicherheit, die Sittlichkeit oder die Erziehung des Kindes gefährdet ist, wird mit zwei Jahren Freiheitsstrafe und einer Geldstrafe von 30.000 Euro bestraft.
    „Für die Anwendung der Vorschrift von Ziffer 3o von Artikel 373 des Zivilgesetzbuches gilt der vom vorliegenden Artikel geahndete Straftatbestand als gleichbedeutend mit einer Verletzung der Unterhaltspflicht“;

  6. In Erwägung dessen, dass die Antragsteller vortragen, die angegriffenen Bestimmungen griffen in das Recht auf den vom elften Absatz der Präambel der Verfassung vom 27. Oktober 1946 gewährleisteten Schutz der Gesundheit ein, indem sie eine Schutzimpfung gegen bestimmte Krankheiten vorschreiben, obgleich die vorgeschriebenen Impfstoffe eine Gefahr für die Gesundheit in sich bergen können; dass diese Gefahr bei kleinen Kindern besonders hoch sei; dass die Krankheiten, gegen die diese Impfungen vorgeschrieben sind, aufgrund der Verbesserung der Lebensbedingungen keine hohe Anzahl an Opfern mehr forderten; dass gesetzlich keine vorherige ärztliche Untersuchung vorgeschrieben sei, welche erlauben würde, Kontraindikationen zu erkennen, die der betroffenen Person nicht bekannt wären;

  7. In Erwägung dessen, dass der Artikel 227-17 des Strafgesetzbuches nicht ausdrücklich die Verletzung von Impfpflichten ahndet; dass die Rügen der Antragsteller ausschließlich gegen die Impfpflicht gerichtet sind und nicht gegen die strafrechtliche Ahndung von Verstößen gegen diese Pflicht; dass die vorrangige Frage zur Verfassungsmäßigkeit die Artikel L. 3111-1 bis L. 3111-3 der Gesundheitsordnung zum Gegenstand hat;

  8. In Erwägung dessen, dass gemäß dem elften Absatz der Präambel der Verfassung von 1946 die Nation „allen, vor allem den Kindern, den Müttern […], den Schutz ihrer Gesundheit“ zusichert;

  9. In Erwägung dessen, dass der Gesetzgeber mit der Verabschiedung der angegriffenen Bestimmungen für minderjährige Kinder eine Impfpflicht gegen Diphtherie, Tetanus und Poliomyelitis vorgesehen hat, welche unter der Verantwortung der Eltern erfüllt wird; dass er damit drei sehr schwerwiegende, ansteckende und nicht ausrottbare Krankheiten bekämpfen wollte; dass er dem für das Gesundheitswesen zuständigen Minister die Aufgabe übertragen hat, nach Einholung der Stellungnahme des Hohen Rates für das öffentliche Gesundheitswesen die Impfpolitik festzulegen und umzusetzen; dass der Gesetzgeber dem Minister ebenfalls die Befugnis eingeräumt hat, durch Dekret jede einzelne dieser Impfpflichten für die gesamte Bevölkerung oder Teile der Bevölkerung auszusetzen, um der epidemiologischen Situation und dem Stand der medizinischen und wissenschaftlichen Erkenntnisse Rechnung zu tragen; dass er schließlich näher bestimmt hat, dass jede dieser Impfpflichten nur unter dem Vorbehalt gilt, dass keine anerkannte Kontraindikation vorliegt;

  10. In Erwägung dessen, dass es dem Gesetzgeber freisteht, eine Impfpolitik zum Schutz der Gesundheit des Einzelnen und der Bevölkerung festzulegen; dass es ihm ebenso freisteht, die rechtlichen Bestimmungen zu dieser Impfpolitik zu ändern, um der Entwicklung der wissenschaftlichen, medizinischen und epidemiologischen Erkenntnisse Rechnung zu tragen; dass es dem Verfassungsrat, der über keinen allgemeinen Wertungs- und Gestaltungsspielraum wie den des Parlaments verfügt, jedoch nicht zusteht, im Hinblick auf den gegenwärtigen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse, die vom Gesetzgeber erlassenen Vorschriften in Frage zu stellen oder zu prüfen, ob der Gesetzgeber das sich gesetzte Ziel des Schutzes der Gesundheit auch auf eine andere Weise hätte erreichen können, solange die Bestimmungen des Gesetzes nicht offensichtlich ungeeignet sind, besagtes Ziel zu verwirklichen;

  11. In Erwägung dessen, dass aus diesen Ausführungen folgt, dass der Gesetzgeber mit den angegriffenen Bestimmungen den von Verfassungs wegen gebotenen Schutz der Gesundheit, so wie dieser von der Präambel von 1946 gewährleistet wird, nicht verletzt hat;

  12. In Erwägung dessen, dass die angegriffenen Bestimmungen, welche auch nicht gegen andere von der Verfassung verbürgte Rechte und Freiheiten verstoßen, für verfassungsgemäß erklärt werden,

ENTSCHEIDET:

Artikel 1 - Die Artikel L. 3111-1, L. 3111-2 und L. 3111-3 der Gesundheitsordnung sind verfassungskonform.

Artikel 2 - Diese Entscheidung wird im Amtsblatt der Französischen Republik veröffentlicht und gemäß den Vorschriften des Artikels 23-11 der oben genannten gesetzesvertretenden Verordnung vom 7. November 1958 zugestellt.

Beschlossen durch den Verfassungsrat in seiner Sitzung vom 19. März 2015, an der teilgenommen haben die Damen und Herren Jean-Louis DEBRÉ, Präsident, Claire BAZY MALAURIE, Nicole BELLOUBET, Guy CANIVET, Renaud DENOIX de SAINT MARC, Hubert HAENEL, Lionel JOSPIN und Nicole MAESTRACCI.

Veröffentlicht am 20. März 2015.

Les abstracts

  • 1. NORMES CONSTITUTIONNELLES
  • 1.3. PRINCIPES AFFIRMÉS PAR LE PRÉAMBULE DE LA CONSTITUTION DE 1946
  • 1.3.12. Alinéa 11
  • 1.3.12.1. Droit à des moyens convenables d'existence, protection de la santé et de la sécurité matérielle
  • 1.3.12.1.3. Droit à la protection de la santé

Il est loisible au législateur de définir une politique de vaccination afin de protéger la santé individuelle et collective. Il lui est également loisible de modifier les dispositions relatives à cette politique de vaccination pour tenir compte de l'évolution des données scientifiques, médicales et épidémiologiques. Toutefois, il n'appartient pas au Conseil constitutionnel, qui ne dispose pas d'un pouvoir général d'appréciation et de décision de même nature que celui du Parlement, de remettre en cause, au regard de l'état des connaissances scientifiques, les dispositions prises par le législateur ni de rechercher si l'objectif de protection de la santé que s'est assigné le législateur aurait pu être atteint par d'autres voies, dès lors que les modalités retenues par la loi ne sont pas manifestement inappropriées à l'objectif visé.

(2015-458 QPC, 20 März 2015, cons. 10, JORF n°0069 du 22 mars 2015 page 5346, texte n° 47 )
  • 4. DROITS ET LIBERTÉS
  • 4.10. AUTRES DROITS ET PRINCIPES SOCIAUX
  • 4.10.5. Principe de protection de la santé publique
  • 4.10.5.2. Applications
  • 4.10.5.2.11. Politique de vaccination

En adoptant les dispositions des articles L.3111-1, L.3111-2 et L.3111-3 du code de la santé publique, le législateur a imposé des obligations de vaccination antidiphtérique, antitétanique et antipoliomyélitique aux enfants mineurs, sous la responsabilité de leurs parents. Il a ainsi entendu lutter contre trois maladies très graves et contagieuses ou insusceptibles d'être éradiquées. Il a confié au ministre chargé de la santé le soin de définir et mettre en œuvre la politique de vaccination après avoir recueilli l'avis du haut conseil de la santé publique. Le législateur lui a également donné le pouvoir de suspendre par décret chacune de ces obligations de vaccination, pour tout ou partie de la population, afin de tenir compte de la situation épidémiologique et des connaissances médicales et scientifiques. Il a enfin précisé que chacune de ces obligations de vaccination ne s'impose que sous la réserve d'une contre-indication médicale reconnue.
Il est loisible au législateur de définir une politique de vaccination afin de protéger la santé individuelle et collective. Il lui est également loisible de modifier les dispositions relatives à cette politique de vaccination pour tenir compte de l'évolution des données scientifiques, médicales et épidémiologiques. Toutefois, il n'appartient pas au Conseil constitutionnel, qui ne dispose pas d'un pouvoir général d'appréciation et de décision de même nature que celui du Parlement, de remettre en cause, au regard de l'état des connaissances scientifiques, les dispositions prises par le législateur ni de rechercher si l'objectif de protection de la santé que s'est assigné le législateur aurait pu être atteint par d'autres voies, dès lors que les modalités retenues par la loi ne sont pas manifestement inappropriées à l'objectif visé. Il en résulte que, par les dispositions contestées, le législateur n'a pas porté atteinte à l'exigence constitutionnelle de protection de la santé  telle qu'elle est garantie par le Préambule de 1946.

(2015-458 QPC, 20 März 2015, cons. 8, 9, 10, 11, JORF n°0069 du 22 mars 2015 page 5346, texte n° 47 )
  • 11. CONSEIL CONSTITUTIONNEL ET CONTENTIEUX DES NORMES
  • 11.6. QUESTION PRIORITAIRE DE CONSTITUTIONNALITÉ
  • 11.6.3. Procédure applicable devant le Conseil constitutionnel
  • 11.6.3.5. Détermination de la disposition soumise au Conseil constitutionnel

Saisi des articles L. 3111-1, L.3111-2, L.3111-3 et L.3116-2 du code de la santé publique ainsi que de l'article 227-17 du code pénal, le Conseil constitutionnel considère que l'article 227-17 du code pénal ne réprime pas spécifiquement le manquement à l'obligation de vaccination et que les griefs des requérants sont uniquement dirigés contre l'obligation de vaccination et non contre la répression pénale de cette obligation. Dès lors, la question prioritaire de constitutionnalité porte uniquement sur les articles L. 3111-1 à L. 3111-3 du code de la santé publique.

(2015-458 QPC, 20 März 2015, cons. 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, JORF n°0069 du 22 mars 2015 page 5346, texte n° 47 )
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