Entscheidung

Entscheidung Nr. 2010-74 QPC vom 3. Dezember 2010

Herr Jean-Marc P. und andere [Rückwirkung eines milderen Strafgesetzes]

Der Verfassungsrat ist am 30. September 2010 gemäß den von Artikel 61-1 der Verfassung vorgesehenen Voraussetzungen vom Kassationsgerichtshof (Strafsenat, Beschluss Nr. 5257 vom 22. September 2010) bezüglich einer von den Herren Jean-Marc P., René B., Éric B. und der Handelsgesellschaft AUCHAN France erhobenen vorrangigen Frage zur Verfassungsmäßigkeit angerufen worden, welche die Frage der Vereinbarkeit des § IV von Artikel 47 des Gesetzes Nr. 2005-882 vom 2. August 2005 zur Förderung kleiner und mittelständischer Unternehmen mit den von der Verfassung verbürgten Rechten und Freiheiten zum Gegenstand hat.
 
DER VERFASSUNGSRAT,
 
Unter Bezugnahme auf die Verfassung;
 
Unter Bezugnahme auf die geänderte gesetzesvertretende Verordnung Nr. 58-1067 vom 7. November 1958, Verfassungsergänzungsgesetz über den Verfassungsrat;
 
Unter Bezugnahme auf das Handelsgesetzbuch;
 
Unter Bezugnahme auf das Strafgesetzbuch;
 
Unter Bezugnahme auf das Gesetz Nr. 96-588 vom 1. Juli 1996 über die Redlichkeit und die Ausgewogenheit der Handelsbeziehungen;
 
Unter Bezugnahme auf das Gesetz Nr. 2005-882 vom 2. August 2005 zur Förderung kleiner und mittelständischer Unternehmen, in Verbindung mit der Entscheidung des Verfassungsrates Nr. 2005-523 DC vom 29. Juli 2005;
 
Unter Bezugnahme auf die Geschäftsordnung vom 4. Februar 2010 über das Verfahren vor dem Verfassungsrat bei vorrangigen Fragen zur Verfassungsmäßigkeit;
 
Unter Bezugnahme auf die für die Antragsteller von der Rechtsanwaltskanzlei Arcole-Nail Chas und Partner, Anwälte der Rechtsanwaltskammer von Tours, eingereichten Stellungnahmen, eingetragen am 7. und am 27. Oktober 2010;
 
Unter Bezugnahme auf die Stellungnahme des Premierministers, eingetragen am 22. Oktober 2010;
 
Unter Bezugnahme auf die zu den Verfahrensakten gegebenen Unterlagen;
 
Nachdem Herr RA Antoine Brillatz für die Antragsteller und Herr Xavier Pottier, Beauftragter des Premierministers, im Rahmen der mündlichen Verhandlung vom 23. November 2010 gehört worden sind;
 
Nachdem der Berichterstatter gehört worden ist;
 

  1. In Erwägung dessen, dass Artikel 47 des oben genannten Gesetzes vom 2. August 2005 lautet: „I. - Der zweite Absatz von Artikel L. 442-2 des Handelsgesetzbuches wird durch die nachfolgenden beiden Absätze ersetzt:
    „Der tatsächliche Einkaufspreis ist der auf der Rechnung ausgewiesene Netto-Stückpreis zuzüglich Umsatzsteuer und weiterer auf den Weiterverkauf anwendbarer Steuern, sowie zuzüglich der Frachtkosten, und abzüglich aller vom Verkäufer gewährten Vergünstigungen, welche in prozentmäßigem Anteil des Netto-Stückpreises der Ware angegeben werden und ab dem 1. Januar 2006 20 % übersteigen.
    „Ab dem 1. Januar 2007 beträgt dieser Schwellenwert 15 %.
    „II. - Vom 1. Januar 2006 an gilt für den in Absatz 2 von Artikel L. 442-2 des Handelsgesetzbuches definierten tatsächlichen Einkaufspreis ein Faktor von 0,9 für den Großhändler, welcher Waren und Dienstleistungen ausschließlich an von ihm unabhängige berufsmäßig Gewerbetreibende des Einzelhandels, der Weiterverarbeitung oder im Bereich der Dienstleistungen gegenüber dem Endkunden vertreibt. Als unabhängig im Sinne des Satzes 1 gilt jedes Unternehmen, welches seine Absatzstrategie frei und selbständig bestimmen kann und kein Verhältnis kapitalistischer Beteiligung oder der Zugehörigkeit zum Großhändler aufweist.
    „III. - Bis zum 31. Dezember 2005 ist der tatsächliche Einkaufspreis der auf der Rechnung ausgewiesene Netto-Stückpreis zuzüglich Umsatzsteuer und weiterer auf den Weiterverkauf anwendbarer Steuern, sowie zuzüglich der Frachtkosten.
    „Zwischen dem 1. Januar 2006 und dem 31. Dezember 2006 gilt für die Anwendung von Artikel L. 442-2 des Handelsgesetzbuches, dass der Betrag, welcher den auf der Rechnung ausgewiesenen Netto-Stückpreis herabsetzt, 40 % der Gesamthöhe aller weiteren vom Verkäufer gewährten Vergünstigungen, welche in prozentmäßigem Anteil des Netto-Stückpreises der Ware angegeben werden, nicht übersteigen darf.
    „IV. - In Abweichung von den Vorschriften der Artikel 112-1 und 112-4 des Strafgesetzbuches gilt für die Aburteilung von in Artikel L. 442-2 des Handelsgesetzbuches vorgesehenen strafbaren Handlungen, die vor dem 31. Dezember 2006 begangen worden sind, sowie für die Vollstreckung von Urteilen bezüglich dieser Handlungen, die Vorschrift, welche zum Zeitpunkt der Begehung der Straftat galt“;
     
  2. In Erwägung dessen, dass nach Auffassung der Antragsteller die Bestimmung des § IV des vorgenannten Artikels 47 zur Folge hat, die sofortige Anwendbarkeit der milderen Strafvorschriften der §§ I, II und III dieses Artikels 47 auszuschließen, und zwar auch in Bezug auf Handlungen, welche vor dem Inkrafttreten dieser Norm begangen worden sind; dass die gerügte Vorschrift daher gegen Artikel 8 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 verstoße;
     
  3. In Erwägung dessen, dass Artikel 8 der Erklärung von 1789 bestimmt: „Das Gesetz soll nur solche Strafen festsetzen, die offensichtlich unbedingt notwendig sind“; dass, wenn ein neues, milderes Strafgesetz keine Anwendung gegenüber Straftaten findet, welche begangen wurden, als das alte Strafgesetz noch galt, dies im Ergebnis bedeutet, dass ein Gericht die vom alten Strafgesetz vorgesehenen Strafen verhängen darf, obwohl diese nach der Auffassung des Gesetzgebers selbst nicht mehr angemessen sind; dass daher der Grundsatz der Notwendigkeit der Strafe gebietet, dass ein milderes Strafgesetz unverzüglich auf vor seinem Inkrafttreten begangene strafbare Handlungen, die noch nicht rechtskräftig abgeurteilt worden sind, anwendbar sein soll, es sei denn, die frühere, schärfere Strafandrohung wäre untrennbar mit der Vorschrift verbunden, an deren Stelle das neue Gesetz getreten ist;
     
  4. In Erwägung dessen, dass der erste Satz des ersten Absatzes von Artikel L. 442-2 des Handelsgesetzbuches „den Verkauf, oder die Ankündigung des Verkaufes, einer Ware in unverändertem Zustand zu einem niedrigeren als dem tatsächlichen Einkaufspreis“ unter Strafe stellt; dass die §§ I bis III des vorgenannten Artikels 47 ein neues Verfahren zur Feststellung des tatsächlichen Einkaufspreises vorsehen, mit dem Ziel, den Schwellenwert für ein Verlustgeschäft niedriger anzusetzen; dass die vorherige Definition dieses Grenzwertes mit der alten Wirtschaftsgesetzgebung, wie sie sich insbesondere aufgrund des oben genannten Gesetzes vom 1. Juli 1996 ergab, untrennbar verbunden war; dass der § IV von Artikel 47, als er die unmittelbare Anwendbarkeit der §§ I bis III desselben Artikels ausgeschlossen hat, nicht gegen den von Artikel 8 der Erklärung von 1789 geschützten Grundsatz der Notwendigkeit der Strafe verstoßen hat;
     
  5. In Erwägung dessen, dass die gerügte Bestimmung auch nicht gegen andere von der Verfassung verbürgte Rechte und Freiheiten verstößt,
     
    ENTSCHEIDET:
     
    Artikel 1 - Der § IV von Artikel 47 des Gesetzes Nr. 2005-882 vom 2. August 2005 zur Förderung kleiner und mittelständischer Unternehmen ist verfassungsgemäß.
     
    Artikel 2 - Diese Entscheidung wird im Amtsblatt der Französischen Republik veröffentlicht und gemäß den Vorschriften des Artikels 23-11 der oben genannten gesetzesvertretenden Verordnung vom 7. November 1958 zugestellt.
     
    Beschlossen durch den Verfassungsrat in seiner Sitzung vom 2. Dezember 2010, an der teilgenommen haben die Damen und Herren Jean-Louis DEBRÉ, Präsident, Jacques BARROT, Claire BAZY MALAURIE, Guy CANIVET, Michel CHARASSE, Renaud DENOIX de SAINT MARC, Jacqueline de GUILLENCHMIDT, Hubert HAENEL und Pierre STEINMETZ.

Les abstracts

  • 1. NORMES CONSTITUTIONNELLES
  • 1.2. DÉCLARATION DES DROITS DE L'HOMME ET DU CITOYEN DU 26 AOÛT 1789
  • 1.2.9. Article 8
  • 1.2.9.2. Nécessité des peines

Le fait de ne pas appliquer aux infractions commises sous l'empire de la loi ancienne la loi pénale nouvelle, plus douce, revient à permettre au juge de prononcer les peines prévues par la loi ancienne et qui, selon l'appréciation même du législateur, ne sont plus nécessaires. Dès lors, sauf à ce que la répression antérieure plus sévère soit inhérente aux règles auxquelles la loi nouvelle s'est substituée, le principe de nécessité des peines implique que la loi pénale plus douce soit rendue immédiatement applicable aux infractions commises avant son entrée en vigueur et n'ayant pas donné lieu à des condamnations passées en force de chose jugée.

(2010-74 QPC, 03 Dezember 2010, cons. 3, Journal officiel du 4 décembre 2010, page 21117, texte n° 87)
  • 4. DROITS ET LIBERTÉS
  • 4.23. PRINCIPES DE DROIT PÉNAL ET DE PROCÉDURE PÉNALE
  • 4.23.3. Principes de nécessité et de proportionnalité
  • 4.23.3.7. Rétroactivité de la loi pénale plus douce

Le fait de ne pas appliquer aux infractions commises sous l'empire de la loi ancienne la loi pénale nouvelle, plus douce, revient à permettre au juge de prononcer les peines prévues par la loi ancienne et qui, selon l'appréciation même du législateur, ne sont plus nécessaires. Dès lors, sauf à ce que la répression antérieure plus sévère soit inhérente aux règles auxquelles la loi nouvelle s'est substituée, le principe de nécessité des peines proclamé à l'article 8 de la Déclaration des droits de l'homme et du citoyen de 1789 implique que la loi pénale plus douce soit rendue immédiatement applicable aux infractions commises avant son entrée en vigueur et n'ayant pas donné lieu à des condamnations passées en force de chose jugée. La première phrase du premier alinéa de l'article L. 442-2 du code de commerce punit " le fait, pour tout commerçant, de revendre ou d'annoncer la revente d'un produit en l'état à un prix inférieur à son prix d'achat effectif ". Les paragraphes I à III de l'article 47 de la loi n° 2005-882 du 2 août 2005 en faveur des petites et moyennes entreprises prévoient de nouvelles modalités de détermination du prix d'achat effectif tendant à abaisser le seuil de revente à perte. La précédente définition de ce seuil était inhérente à la législation économique antérieure résultant notamment de la loi n° 96-588 du 1er juillet 1996 sur la loyauté et l'équilibre des relations commerciales. Dès lors, en écartant l'application immédiate des paragraphes I à III de l'article 47, le paragraphe IV du même article n'a pas porté atteinte au principe de nécessité des peines énoncé à l'article 8 de la Déclaration de 1789.

(2010-74 QPC, 03 Dezember 2010, cons. 3, 4, Journal officiel du 4 décembre 2010, page 21117, texte n° 87)
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